Erklärung zum 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion

FÜR DIE ERNEUERUNG DER HISTORISCHEN WAHRHEIT

Am 22. Juni 1941 überfiel Nazi-Deutschland die Sowjetunion. Es begann eine neue, besonders blutige Phase des Zweiten Weltkrieges. Von diesem Moment an hing das Schicksal der Welt vor allem von den Geschehnissen an der Ostfront ab. Die Sowjetunion siegte und zahlte dafür den Preis gewaltiger Anstrengungen und Verluste von Menschenleben unter alle ihren Völkern.

Der sowjetische Sieg wurde und wird im Westen vielfach als „russischer“ Sieg betrachtet. Der amerikanische Journalist Edward Snow schrieb dagegen nach seinem Besuch in der Ukraine 1945:

„Das, was einige als „russischen Ruhm“ darzustellen versuchen, war in erster Linie ein ukrainischer Krieg. Kein einziges europäisches Land hat mehr an den tiefen Wunden gelitten, die seinen Städten, seiner Industrie, Landwirtschaft und Menschenkraft zugefügt wurden.“

Die Ukraine geriet zweimal ins Zentrum großer Militäroperationen, während der Offensive und während des Rückzugs der deutschen Truppen; sie war, anders als Russland, vollständig besetzt und wurde insgesamt zu einem Objekt der mörderischen deutschen Besatzungspolitik.

Die einheimischen Juden litten am meisten. Dennoch gibt es keine einheimische ethnische oder soziale Gruppe, die keine großen Opfer erlitten hätte. Besonders betrifft dies Roma, sowjetische Kriegsgefangene und psychisch Erkrankte, belarussische und ukrainische Ostarbeiter. Diese Opfer wurden praktisch zweimal getötet: zuerst physisch, während des Krieges, und ein zweites Mal nach dem Krieg, als die Erinnerung an sie durch das kommunistische Regime beseitigt wurde.

Im östlichen Europa wirft der Zweite Weltkrieg immer noch Schatten auf die Gegenwart. Die tragischen Erfahrungen des Krieges dienen hier nicht als Stoff für Versöhnung, sondern für Konflikte zwischen den Nationen. Die Verantwortung für diese Situation tragen in erster Linie die jeweiligen Regierungen. Insbesondere betrifft dies die russische Regierung, die Geschichtspolitik als Mittel benutzt, um sich in die inneren Angelegenheiten ihrer Nachbarn einzumischen, insbesondere um die militärische Aggression gegen die Ukraine zu rechtfertigen. Aber auch in Deutschland wird der Krieg im Osten nicht selten allein als "Krieg gegen Russland" gesehen. Damit werden die Opfer der anderen Nationen verschwiegen. Unbeabsichtigt trägt dies dazu bei, ein Monopol des Kreml auf die Geschichte der Region zu erhalten.

Wir, die Mitglieder der Deutsch-Ukrainischen Historikerkommission, rufen die deutsche Regierung dazu auf, der ukrainischen Opfer und der Opfer aller Völker Osteuropas zu gedenken, die unter dem deutsch-sowjetischen Krieg gelitten haben.

Die Erfahrung der Geschichte zeigt, dass man die Nachbarn in der Not nicht im Stich lassen darf - denn dann werden deren Probleme zu gemeinsamen Problemen. Wir betonen noch einmal die Wichtigkeit eines intensiven Dialogs Deutschlands mit der Ukraine und anderen östlichen Nachbarn über die gemeinsame Vergangenheit. Unsererseits verpflichten wir uns als professionelle Historikerinnen und Historiker, durch die nationalen und internationalen wissenschaftlichen Institutionen, denen wir angehören, mit der Teilnahme und Hilfe unserer Kolleginnen und Kollegen, Promovierenden und Studierenden, aktiv zu diesem Dialog beizutragen.