Dissertationsprojekt: "M. Lyssenko - zwischen Musik und Politik, Kunst und Zensur"

Im Laufe der Geschichte spielten die Wörter Musik und Politik eine bedeutende Rolle. In allen Diktaturen des 20. Jahrhunderts richtete man Kontrollinstitutionen ein, die das musikalische Schaffen und die Komponisten selbst kontrollierten und überwachten. Unerwünschte Musik wurde unterdrückt oder verboten. Musik, die in die jeweilige Ideologie passte und instrumentalisiert werden konnte, wurde gefördert und verbreitet.

Nach der Spaltung der Sowjetunion entstanden in der europäisch-asiatischen politischen Landschaft fünfzehn unabhängige Nationalstaaten, die nach vielen Jahrzehnten mit ihrer eigenen Nationalgeschichte konfrontiert wurden. Geschichte war nicht mehr Parteisache, sondern Staatssache. Plötzlich tauchten Namen auf, die man siebzig Jahren nicht hörte. Von diesem Prozess blieben die Musik und Musikgeschichte nicht verschont. Laut sowjetischer Geschichtsschreibung gab es in diesen Ländern so gut wie keine repräsentativen Persönlichkeiten, die der höheren Kunst der Musik gewachsen waren. Mit einigen Ausnahmen blieb das Recht auf die Gestaltung der Musik und der Musikgeschichte dem „großen russischen Bruder“ vorbehalten. Mein wissenschaftliches Interesse richtet sich in diesem Kontext auf die Ukraine. 

Mykola Lyssenko (1842-1912, Komponist, Wissenschaftlicher, u.v.m.) gehörte zu den Personen, deren Namen seit Anfang der 1990-er Jahre in den ukrainischen Medien, auf Konzerten und offiziellen staatlichen Veranstaltungen stärker in Erscheinung traten. Die Popularisierung seiner Person nahm ein enormes Ausmaß an. In der Ukraine ist jedoch eine Auseinandersetzung mit diesem Thema aus politischen, historischen und musikhistorischen Gründen fast nicht möglich. Seitens der ukrainischen Forschung wurden nur wenige Versuche unternommen, dieses Thema zu bearbeiten, da dies im Land nicht erwünscht scheint. Ausgehend von den dargestellten Rahmenbedingungen des kulturellen Lebens und dem Stand der Wissenschaft in der Ukraine und im Ausland, sollen in dem Promotionsvorhaben folgende Leitfragen beantworten werden: Welche Auswirkungen haben politische Ordnungen und historische Abläufe auf das Schaffen eines Künstlers und auf dessen Popularisierung? Welche Rolle spielen historische und vor allem politische Ereignisse in der Zeit nach dem Tod des Komponisten bis heute? Welchen Einfluss nahmen vorherige, wichtige geschichtliche Ereignisse auf sein Schicksal?