‚Nationale Wissenschaft' zwischen zwei Imperien. Die Ševčenko-Gesellschaft der Wissenschaften, 1892–1918

Imperienbildungen und Maßnahmen ihres Zusammenhalts prägten spezifische Wissens- und Wissenschaftsinhalte gegenüber nationalen und ethnischen Gruppen, sowohl durch Herrschaftswissen als auch durch öffentliche und wissenschaftliche Alterisierungsdiskurse. Zivilisierungsmotive sind dabei nicht auf den überseeischen Kolonialismus beschränkt, sondern waren auch im ostmittel- und osteuropäischen Raum ein Fixpunkt imperialer Ideologie. Nationalbewegungen suchten diesen Strategien der Herrschaftslegitimierung entgegenzutreten, indem sie ihre kulturellen und politischen Potenzen unter Beweis stellten. Die sich im 19. Jahrhundert ausdifferenzierenden Human- und Sozialwissenschaften boten die Möglichkeiten, Negativbilder zu widerlegen und Hierarchien zu (de-)konstruieren.

Im ukrainischen Fall ist die Hochzeit der „Verwissenschaftlichung der Nation“ untrennbar mit ihren jeweiligen imperialen Kontexten verbunden. Nationsbildung erscheint damit stets als Dekonstruktionsstrategie gegenüber der imperialen Perspektive, oder umgekehrt: die imperialen Wissensformationen beeinflussten Bildungs- und Konstruktionsprozesse der ukrainischen Nation und den jeweiligen als ukrainisch begriffenen Regionen. Die 1873 im ostgalizischen Lemberg gegründete Ševčenko-Gesellschaft setzte sich seit der Entfaltung ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit in den 1890er Jahren das Ziel, nicht nur Literatur, sondern auch Wissenschaften in ukrainischer Sprache zu fördern. Wissenschaftler unterschiedlicher Provenienz griffen Techniken und Theorien imperialer Wissenschaften auf und suchten Inhalte, die sie als problematisch erachteten, durch eigene Forschungen zu präzisieren oder zu widerlegen. Dabei folgten sie, in eigenen Worten, den Bedürfnissen ihrer „nationalen Wissenschaft“.

Die geplante Dissertation möchte anhand bisher zu Unrecht von der Geschichtswissenschaft vernachlässigten Disziplinen untersuchen, wie diese wissenschaftliche Gesellschaft das Bild der ukrainischen Nation und insbesondere der westukrainischen Region geprägt hat und bis heute prägt. Zu diesem Zweck muss sie sich sowohl mit der Produktion von Raum-, als auch von Menschenbildern in den einschlägigen Wissenschaften befassen.

 

Einen auf der Dissertation beruhenden Artikel von Martin Rohde können Sie hier lesen.

Die Dissertation ist nun auch im open acess erschienen. Sie können sie hier lesen.